Sybaris saß auf den warmen, sonnenbeschienenen Karstfelsen vor ihrer Höhle am Ufer des türkisblauen Sees und verdaute. „Liegt ganz schön schwer im Magen, die Letzte“, sinnierte sie, während sie sich mit ihrer gespaltenen Zunge bedächtig eine lange, goldene Kralle putzte. „Bisschen arg fettig gewesen…“ Langsam schien der Vorrat an appetitlichen Jungfrauen in dieser Gegend zur Neige zu gehen, was kein Wunder war, da Sybaris jeden Monat eine von ihnen als Opfer verlangte. Und die Bewohner der Region erfüllten mehr oder weniger widerwillig ihre Forderung, damit sie deren Städte und Dörfer nicht zerstörte. Was nicht hieß, dass sie es nicht eines Tages vielleicht doch tun würde, rein aus Langeweile… Sybaris war einsam. Sicher, sie besaß eine schöne große Höhle am Ufer ihres kühlen, idyllischen Sees, einen riesigen Goldschatz, um den manch anderer Drache sie beneidete und die Bewohner der Region hatten noch nie versucht, sie mit irgendwelchen Mistgabeln oder sonstigen Unflätigkeiten zu vertreiben; außerdem waren die Jungfrauen hier recht lecker, zumindest bis auf das etwas fettige Exemplar neulich. Dennoch stillten sie ihren Hunger nicht, ihren Hunger nach… Ja, nach was eigentlich? So genau wusste sie es selber nicht. Manchmal schoben sich wirre Bilder in ihre Träume, Bilder von zarten Händen, weichen Lippen, großen Frauenaugen… Oftmals, wenn wieder einmal eine der Jungfrauen vor ihr stand, überlegte sie, was wohl geschähe, wenn sie ihr Opfer nicht fressen würde. Manchmal, wenn ihr eine ganz besonders gefiel, versuchte sie sogar, mit ihr zu reden. Aber keine hatte ihr je geantwortet. Sie hatte manche begehrlich umzüngelt und warme Krallen zärtlich über schöne Schultern gleiten lassen; ganz und gar nicht in mörderischer Absicht. Aber alle, alle hatten Angst vor ihr. Und dann dufteten sie nicht mehr appetitlich. Ganz und gar nicht. Und dann fraß Sybaris sie doch.

Sybaris betrachtete ihr Spiegelbild im See. So furchterregend war sie eigentlich gar nicht, fand sie. Ihre Schuppen glitzerten in allen Schattierungen von sanftem Himmelblau über funkelndes Türkis, durchsetzt mit leuchtendem Smaragdgrün bis hin zu dunklem, geheimnisvollen Tiefseeblau. Ihr Krallen und ihre langen, gedrehten Hörner waren golden, ihre riesigen, ledrigen Schwingen spiegelten alle Farben der See wieder und ließen das gleißende Sonnenlicht durchscheinen, wobei sich das feine Adernetz wie eine überdimensionale Landkarte gegen den Himmel abhob; ihre Augen waren vom strahlendsten Aquamarinblau, das man sich nur vorstellen konnte – sie war zweifelsohne einer der schönsten Wasserdrachen, die je gelebt hatten.

Half ihr aber auch nicht, wenn die schönen Jungfrauen sich vor lauter Panik buchstäblich ins Hemd machten. Blieb zu hoffen, dass die Jungfrau nächsten Monat wenigstens nicht wieder so magenbeschwerend sein würde. Vielleicht sollte sie mal eben zum Zeichen ihrer Unzufriedenheit und zur Warnung einen kleinen Apollo-Tempel zerstören, schließlich hatten die Priester die Wahl der Jungfrauen zu treffen…

So ganz aufraffen konnte sie sich dazu aber auch nicht, also blieb sie faul in der Sonne liegen. Gegen Abend planschte sie ein bisschen im See, wozu sie eine ihrer Lieblingsgestalten annahm, die einer rothaarigen, verführerischen Nixe mit türkisblauem Fischschwanz. War einfach bequemer zu schwimmen und dann lief nicht wieder der halbe See über, wenn sie sich ins Wasser fallen ließ. In Drachengestalt war Sybaris gewaltig wie die Akropolis und der See nicht mehr als eine größere Badewanne für sie. Leider mieden die Fischer in der Gegend mittlerweile den See. Früher hatte sie sich hier gelegentlich ein nettes Zwischenhäppchen abgegriffen, in Nixengestalt waren die Fischer ihr zur leichten Beute geworden.

Die nächsten Wochen verbrachte sie wie immer: Mit Dösen, ein paar Runden über die Stadt Delphi fliegen, im Vorbeiflug ein paar Felder niederbrennen, einen kleinen Abstecher zum Meer – hier gab es als Imbiss doch ein paar unvorsichtige Fischer und einen kleineren, leider recht zähen Pottwal.

Als der nächste Vollmond nahte und damit die Zeit für ihre nächste Jungfrau, flog sie wieder nach Hause, zählte wie immer erst einmal all ihr Gold, das die Bewohner der Region in der Zwischenzeit hübsch poliert hatten und bewunderte ihre sauber aufgeräumte Höhle – auch dafür hatten die Menschen zu sorgen. Schließlich war Sybaris ein weiblicher Drache, auf Ordnung im Haushalt legte sie Wert. In all den Jahren war noch nie etwas weggekommen – die Leute wussten schon ganz genau, dass sie, die mächtige Sybaris de Cirfis, mit ihrem Feueratem ansonsten jeden Grashalm in der Region niedergebrannt hätte, ha!

Selbstzufrieden kringelte Sybaris sich auf ihrem Lager zusammen, legte die große Schnauze auf ihren Schwanz, schloss genüsslich die Augen und gab sich ihren Träumen hin. Wenn da bloß nicht wieder diese Bilder vor ihrem inneren Auge gewesen wären… Sie sah runde Hüften, weiche Brüste und andere unbeschreibliche Dinge und fast war ihr, als könne sie einen betörenden Duft nach Rosen und frischen Feigen riechen.

Unruhig und aufgewühlt erwachte Sybaris gegen Abend. Die Sonne sank in den westlichen Abendhimmel und damit wurde es Zeit für die monatliche Prozession. Sybaris platzierte sich gut sichtbar auf ihrem Felsen und wartete. Sie war gespannt, was die Priester ihr dieses Mal bringen würden. Sie hatte doch noch einen kleinen Tempel niedergebrannt und hoffte, dass man ihr dieses Mal ein Exemplar bringen würde, das so richtig nach ihrem Geschmack war.

Und dann sah sie sie. Und es durchschlug ihr Drachenherz wie ein Blitz. An der Spitze der Prozession näherte sich eine Frau, so unglaublich schön, wie sie noch keine je gesehen hatte. Sie war ganz und gar in weiß gehüllt, auf dem Haupt trug sie einen aus blutroten Rosen geflochtenen Kranz. Ihre Augen waren dunkler als die dunkelste Nacht und selbst auf diese Entfernung konnte Sybaris das Feuer sehen, das darin loderte. „Drachenfeuer“, hallte es hohl in Sybaris’ Kopf. Wenn ein Drache dämlich aussehen konnte, so tat sie es in diesem Moment. Sie vergaß das donnernde Brüllen, was aus rein theatralischen Gründen bei diesem monatlichen Ritual stets zu ihrem Standard-Repertoire gehörte. Sie vergaß, mit ihren goldenen Krallen Funken aus dem Felsen zu schlagen. Sie vergaß kurzfristig sogar, dass sie ein Drache war. Sie konnte die Frau an der Spitze der Prozession nur anstarren, sie war wie gelähmt. Ihre Gedanken rasten und überschlugen sich und dennoch brachte sie keine vernünftige Reaktion zustande. Und dann passierte es. Die Frau hob die Augen und starrte zurück. Starrte direkt in Sybaris’ aquamarinblaue, uralte Augen, hielt ihren Blick fest, bannte ihn, und dann verzogen ihre Lippen sich zu einem feinen, fast spöttischen Lächeln. Sie öffnete ihre Arme weit, wie zu einer Umarmung, und das Lächeln schien von ihren Lippen in ihre dunklen Augen überzuspringen. Goldene Funken tanzten darin. „Das ist kein Mensch, das muss eine Göttin sein“, waberte es durch Sybaris’ benebeltes Hirn…

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